Neuromotorische Entwicklung

Das Ineinandergreifen der Entwicklungsschritte des Menschen versetzen uns ins Staunen.

"Die Entstehung und das Ineinandergreifen der Entwicklungsschritte des Menschen versetzen ins Staunen."

Leben ist von Anfang an Bewegung und Veränderung.

Aus einer winzigen Samenzelle entsteht durch Verschmelzung mit einer kleinen Eizelle ein einzigartiges menschliches Wesen. Aufgrund von Reifung und Erfahrung entwickelt sich ein erwachsener Mensch mit individueller Persönlichkeit. Weiterentwicklung ist aber lebenslang möglich und so findet Lernen aufgrund der Plastizität des menschlichen Gehirns in jedem Alter statt.

Die ersten vier Wochen

Bereits im embryonalen Stadium, also den ersten acht Schwangerschaftswochen, bildet sich das zentrale Nervensystem, das aus Gehirn und Rückenmark besteht. Der Grundbaustein, aus dem sich das hochkomplexe Zentralnervensystem entwickelt, sind die Milliarden von Nervenzellen, die Neuronen, die ca. drei Wochen nach der Befruchtung entstehen. Sie können im Laufe des Lebens nicht mehr nachgebildet werden. Um Informationen übermitteln zu können, müssen sich die vorhandenen Nervenzellen erst noch über Nervenfasern untereinander und mit allen Teilen des Körpers verbinden.

Mit vier Wochen misst der Embryo ca. drei Millimeter. Es bilden sich Augenflecken, Ohrenbläschen, Auswölbungen für die vier Gliedmaßen und das Herz beginnt zu schlagen. 

Entwicklung im Mutterleib

Acht Wochen nach der Zeugung wird der Embryo nun Fötus genannt. Die wichtigsten Organsysteme sind bereits angelegt und sogar in Teilen funktionsfähig. Mit nur fünf Zentimetern Körperlänge sieht der Fötus bereits wie ein kleines menschliches Baby aus.

Wundersame Prozesse

Nach und nach entwickeln sich die sensomotorischen Fähigkeiten, indem sich die reifenden Sinnesorgane, die beginnende Motorik und das sich ausbildende Nervensystem immer stärker vernetzen. Ausgelöst durch Berührungen mit der Gebärmutterwand vollführt der Fötus nun Purzelbäume und Drehungen um die Längsachse. Bis zum siebten Schwangerschaftsmonat bleibt ihm dafür genügend Platz. Aufgrund der starken Zunahme an Gewicht und Körpergröße, ist die Bewegungsfreiheit später sehr stark eingeschränkt. Etwa mit 24 Wochen hätte der Fötus auch außerhalb des Mutterleibes erste Überlebenschancen. Er misst dann ca. 35 Zentimeter und seine Lunge wäre notfalls im Stande zu atmen. Viele Organe und vor allem das Gehirn bedürfen aber noch weiterer Reifung.

Bewegungsentwicklung

Die Bewegungsentwicklung verläuft bei allen gesunden Kindern stetig und gesetzmäßig. Am Ende einer gelungenen motorischen Entwicklung steht die willkürliche und koordinierte Bewegung. Diese aber setzt die Vernetzung komplexer Sinnes- und Muskelaktivitäten voraus. Grundlage dafür wiederum ist die Reifung des Zentralnervensystems, so dass Gehirn- und Bewegungsentwicklung einander bedingen und auch stark gegenseitig vorantreiben.

Reifung durch Vernetzung

Die Bewegungsentwicklung beginnt bereits im Mutterleib und ist in diesem Stadium sowie in den ersten Lebensmonaten stark von reflexhaften Bewegungsmustern geprägt. Diese immer gleich ablaufenden Bewegungen werden als frühkindliche Reflexe bezeichnet. Auf dieser Grundlage bauen die lebenslangen Halte- und Stellreaktionen auf. Zu den Halte- und Stellreaktionen zählen die, ab dem zweiten Lebensmonat in Erscheinung tretenden, Augen- und Labyrinthstellreaktionen, die die visuelle Wahrnehmung, die Kopfkontrolle und einen angemessene Muskelspannung im Nackenbereich unterstützen.
Auch automatisierte Gleichgewichtsreaktionen etablieren sich nach und nach ab dem dritten Lebensmonat. Sie werden ausgelöst, wenn der Körper das Gleichgewicht verliert oder wenn sich das Zentrum der Schwerkraft verlagert.
Die Bewegungsentwicklung ist ein Gradmesser für die Reifung des Zentralnervensystems. Anhand motorischer Meilensteine lässt sich das Entwicklungsalter eines Kindes abschätzen:

Entwicklung der Wahrnehmung – die Sinne

Schon in der frühen Schwangerschaftszeit entwickelt sich die Wahrnehmung, die eng mit der Bewegungsentwicklung verknüpft ist. Die Sinne sind der Weg, auf dem das Gehirn Informationen über die Umwelt erhält. Ist der Sinneseindruck angemessen verarbeitet, braucht es vom Gehirn ausgehende Bahnen, um durch körperliche Reaktionen mit der Umwelt in Kontakt treten zu können. In dieser Weise geschieht alles menschliche Lernen.

Die einzelnen Sinneskanäle sind untereinander stark verflochten, bauen aufeinander auf und sind voneinander abhängig. Ihre jeweiligen Nervenbahnen laufen alle, mit Ausnahme der Riechbahn, über eine gemeinsame Schaltstelle im Gehirn. Erst danach können sie in anderen Gehirnregionen bewusst wahrgenommen werden. Bereits kleine Unausgewogenheiten, Verzerrungen oder Verlangsamungen haben gravierende Auswirkung. Die mögliche Folge sind Unsicherheiten, Verwirrung oder auch unangemessene Reaktionen.

Bereits in der fünften Woche nach der Zeugung erwacht der Tastsinn und ermöglicht dem Embryo eine Berührung im Gesicht wahrzunehmen. Bis zur zwölften Woche hat sich die Berührungsempfindlichkeit auf den gesamten Körper ausgeweitet. Anfangs ist der Fötus nur in der Lage auf der Ebene des Rückenmarks zu reagieren und in einfachen Rückzugsbewegungen einem Berührungsreiz auszuweichen. Vielfältige Hautreize erhält der Fötus über Bewegungen der Mutter und Eigenberührungen. Sie regen die weitere Reifung des taktilen Wahrnehmungssystems an. Erreichen die Sinneszellen dann den Hirnstamm, können sie mit dem Gleichgewichts- und dem Hörsinn verschaltet werden. Einfache Reaktionsmuster wie die frühkindlichen Reflexe werden möglich.
Mit fortschreitender Entwicklung entsteht im Gehirn entsprechend der Fülle und Qualität der elektrischen Impulse, mit der Zeit eine somatosensorische Landkarte des eigenen Körpers, was die Grundlage für eine gute Körperwahrnehmung legt. Körperregionen, die besonders sensibel auf taktile Stimulation reagieren wie etwa die Lippen oder die Fingerspitzen, nehmen auf dieser Landkarte mehr Platz ein, als beispielsweise die Rückenregion.
Zahlreiche Studien belegen die besondere und lebenswichtige Bedeutung des Tastsinns für Säuglinge. Über Körperkontakt wie Massieren, Streicheln, Wiegen oder Herumtragen wird das Immunsystem gestärkt. Die sensomotorische und geistige Entwicklung, das Körperwachstum sowie das emotionale Wohlbefinden werden gefördert. Das bedeutet, die Bezugsperson des Babys liefert durch den Körperkontakt beim Füttern, Wickeln und Spielen einen enormen Beitrag zur Reifung des taktilen Wahrnehmungssystems und damit letztlich auch zur geistigen und emotionalen Entwicklung.

Informationen des Vestibularapparates, also des Gleichgewichts-, Dreh- und Raum-Lage-Sinnes werden meist unbewusst verarbeitet, sorgen jedoch für elementare Grundlagen wie Balance, Haltung, Kontrolle der Blickrichtung und ein konstantes visuelles Bild. Dazu muss das vestibuläre System Einfluss nehmen auf die Muskelspannung und die neuromuskuläre Reflexreaktion. Informationen über Gleichgewicht und Bewegung gelangen vom Vestibularapparat ins Gehirn. Hier werden alle anderen Sinneseindrücke mit dem vestibulären System abgeglichen. Dies verdeutlicht die immens hohe Bedeutung des Gleichgewichtsinns. Störungen in diesem Bereich haben weitreichende Auswirkungen auf alle anderen Sinne.
In der Schwangerschaft wird der Gleichgewichtssinn reichlich stimuliert durch Bewegungen der Mutter und auch durch Eigenbewegungen des Fötus. Das Ungeborene orientiert sich bereits entsprechend der Schwerkraft im Raum und bewegt sich zum Ende der Schwangerschaft in die Geburtsposition. Dies kann nur mit einem gut entwickelten Vestibularsystem gelingen.
Säuglinge erleben stimulierende Bewegungsreize als lustvoll. Sie lassen sich gerne tragen, schaukeln und wiegen. Als Kleinkinder verschaffen sie sich diese vestibuläre Anregung durch intensives Drehen, Hüpfen und Purzeln selbst und genießen das sichtlich.
Die enorme Bedeutung des Gleichgewichts für die gesamte motorische und sensorische Entwicklung wird besonders bei Kindern mit Störungen in diesem Bereich offenkundig. Lernschwierigkeiten, motorische Entwicklungsverzögerungen, emotionale Probleme oder auch Sprachstörungen können mögliche Folgen sein.

Das Sehen beherrscht die gesamte sinnliche Wahrnehmung des Menschen und ist das Hauptinstrument zum Erfassen der umgebenden Welt. Aus diesem Grund beansprucht das hochkomplexe visuelle Verarbeitungssystem auch mehr Platz im Gehirn als alle anderen Sinne zusammen. Die Sehschärfe ist dabei nur ein Teilbereich der visuellen Wahrnehmung. Farbsehen, Tiefenwahrnehmung und zielgerichtete Augenbewegungen zählen zu den primären Sehfähigkeiten. Die komplexe Vernetzung der visuellen Wahrnehmung mit dem Tast-, Gleichgewichts- und Körpereigenwahrnehmungsempfinden ist für eine reifende Neuromotorik unerlässlich. Ohne körperliche Vorerfahrungen und effektive Verbindung mit dem Zentralnervensystem liefert das Auge lediglich eine optische Wahrnehmung, aber kein Sehen in unserem Verständnis.

Auch wenn diesem Entwicklungsbereich in der Regel weit weniger Aufmerksamkeit beigemessen wird, als den meisten anderen Reifungsschritten, so bildet er doch die unverzichtbare Grundlage auf der alle geistigen Fähigkeiten überhaupt aufbauen können.
Ohne ein gewisses Maß an Sicherheit, Selbstvertrauen und Antriebskraft, das sich nur im sozialen Miteinander ausbildet, fehlt die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Die emotionalen Schaltkreise beeinflussen alle Gehirnfunktionen. Emotionale Intelligenz, also die Fähigkeit, eigene Gefühle zu erkennen und zu kontrollieren, die Gefühle anderer zu interpretieren und entsprechend zu reagieren, entscheidet maßgeblich darüber, ob die kognitive Intelligenz im Leben tatsächlich umgesetzt werden kann.